top of page
AutorenbildAnne Paulsen

Vom Aufgang der Sonne ☀ über deutsche Pünktlichkeit und pazifische Coconut Time


Jeden Morgen zwischen 6 und halb 7 geht die Sonne über Kiribati auf. Genau 12 Stunden strahlt sie ab dann mit voller Kraft über den winzigen Atollen und verschwindet am Abend so schlagartig, als würde jemand das Licht ausknipsen. Jeder Tag im Jahr fühlt sich auf Kiribati genau gleich an. In Deutschland müssen wir uns hingegen je nach Jahreszeit immer wieder auf neue Temperaturen, Wetterbedingungen und Sonnenstunden einstellen. Der Wechsel zwischen Frühling, Sommer, Herbst und Winter verlangt eine gute Vorausplanung. Wie sehr dieser Jahreszyklus mich und die Kultur meines Landes prägt, wurde mir gerade dann bewusst, als ich auf Kiribati unter ganz anderen Umweltbedingungen lebte. Auch die Mentalität der I-Kiribati formt sich aus den natürlichen Gegebenheiten ihres Landes.


Eines der häufigsten Klischees, das man über Deutsche hört ist, dass wir Struktur und Ordnung lieben. Wir planen gerne voraus, denn dadurch glauben wir mehr Kontrolle zu erlangen. Als Deutscher ist man gerne gut vorbereitet und hat immer alles dabei wenn man aus dem Haus geht, für den Fall, dass es plötzlich regnet, stürmt, oder schneit.


Auf Kiribati gibt es langes Vorausplanen nicht. Wozu auch? Auf den kleinen Inseln leben alle nah beieinander und alles Wichtige befindet sich in Reichweite. Wird beispielsweise ein Fest gefeiert, sind alle Gäste schnell informiert und es reicht auch noch einen Tag vorher die Einladungskarten zu verteilen. Damit meine ich nicht, dass Planung auf Kiribati nicht stattfindet. Ganz im Gegenteil steckt hinter jedem Fest enorm viel Aufwand und ganz viel Liebe zum Detail…


Aber eben auch hundert Prozent „Coconut-time“ oder „Kiribati-Time“. Um zu erklären was dieses Zeitverständnis im Gegensatz zur deutschen Pünktlichkeit bedeutet, folgt hier ein kurzes Beispiel: Zu einem 10 Uhr Termin erscheint man in Deutschland bereits um 09:55. - Fünf Minuten vor der Zeit ist bei uns die allseits bekannte Regel. Ein I-Kiribati käme zu diesem Termin vielleicht etwa gegen 1 Uhr. Auf Bewohner der Outerislands, oder den Nordinseln Tarawas, müsste man womöglich noch weitere Stunden, Tage oder Wochen warten.


Das extremste Ausmaß von Coconut-Time lernte ich auf einem meiner Ausflüge nach Nord-Tarawa kennen. Anlass war der erste Geburtstag der Tochter eines hoch angesehenen Pastors, zu dem ich und viele andere Gäste eingeladen waren. Die Bootstour auf die kleine Insel in Nord-Tarawa dauerte deutlich länger als geplant. Das lag höchstwahrscheinlich an dem starken Übergewicht unseres Bootes und den unerwarteten Sandbänken, durch die wir auf halber Strecke immer wieder stecken blieben. Schon zu diesem Zeitpunkt war ich nervös, weil wir uns nicht an den Zeitplan hielten. Oder war das nur mein Empfinden?


Die Feier sollte laut Einladung am Tag nach unserer Ankunft um 10 Uhr morgens beginnen. Ich war fassungslos, als wir spät abends ankamen und ich sah, was noch alles organisiert werden musste. Das ganze Dorf war in Aufruhr. Bis spät in die Nacht wurden Tänze einstudiert, Luftballons aufgeblasen, Girlanden gebastelt, Kostüme genäht und vor allem unglaublich viel Essen zubereitet. Am nächsten Morgen war noch immer so viel zu tun, dass die Feier erst sagenhafte 9 Stunden später losgehen konnte als geplant. Um 7 Uhr abends anstatt 10 Uhr morgens waren endlich die wichtigsten Gäste in der großen Maneaba (Kirche) versammelt.


Während ich den ganzen Tag wartete, dass es losging und von Stunde zu Stunde ungeduldiger wurde, bemerkte ich nicht, dass die Feier schon längst begonnen hatte. Während der Vorberreitung kamen die Menschen immer wieder in kleineren Kreisen zusammen, um zu essen, zu singen und bei der gemeinsamen Arbeit Spaß zu haben.

Ich hatte nicht bemerkt, dass die Party schon voll in Gang war, als ich mit den Frauen unsere Hoola Choreographie einstudierte, als wir beim Reiskochen schon von dem frisch gefangenen Fisch probierten, als wir beim Dekorieren mit den Luftballons fangen spielten und laut unseren Chor-Gesang einstudierten.


Ich habe es nicht verstanden, weil ich in einer Gesellschaft groß geworden bin, in der alles strikt nach Plan läuft und man verlernt hat im Hier und Jetzt zu leben. Wir haben den Drang uns auf alles vorzubereiten und immer zu wissen was wann und zu welchem Zeitpunkt geschieht.


Aber ist Kontrolle wirklich alles? Helfen uns Pläne wirklich immer, oder sind sie manchmal wie ein dunkler Tunnel, der uns zwar zum Ziel führt, aber den Blick auf die schöne bunte Landschaft um uns herum versperrt? Was nützt uns ein kurzer Erfolg, wenn wir die Zeit davor nicht genießen können?


Hätte ich vor der Feier verstanden, dass der Weg bereits das Ziel ist und die Arbeit bereits die Party, hätte ich nie warten müssen. Ich hätte nicht ungeduldig sein müssen, sondern hätte genießen können. Hätte ich nur verstanden, was für meine kiribatischen Freunde ganz normal ist: Zeit ist nicht verloren, nur weil ein Plan mal nicht aufgeht. Wir können nicht die Welt kontrollieren, aber was jetzt geschieht, können wir beeinflussen. Es ist okay nicht immer den perfekten Plan für eine perfekte Zukunft zu haben. Egal wie

verloren wir uns fühlen, eins bleibt uns gewiss... dass die Sonne morgen früh wieder aufgehen wird.

Comments


bottom of page